2. Interdisziplinäre Podiumsdiskussion
TEILNEHMER: Univ.-Prof. Dr. Eduard Auff, Vorstand der Universitätsklinik für Neurologie, MedUni Wien; Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger, Stv. Klinikdirektor der Universitätsklinik für Neurologie, MedUni Innsbruck; Barbara Blaschke, MS-Betroffene; Univ.-Prof. Dr. Siegrid Fuchs, Klinische Abteilung für Neurogeriatrie, MedUni Graz; Arndt Praxmarer, MSc, akademischer Coach und Trainer und Referent des Dritten Präsidenten des Nationalrates; Hon. Prof. (FH) Dr. Bernhard Rupp, MBA, Gesundheitsökonom, Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften, Krems
Die Anforderungen der heutigen Konsum- und Leistungsgesellschaft bringen viele Menschen unter Druck. Besonders schwierig ist die Situation für Menschen mit chronischen Erkrankungen wie der Multiplen Sklerose (MS).
Mit der Diskussionsreihe „Perspektive inklusive!“ will Merck Österreich mehr Bewusstsein für die Belange von Patienten mit MS abseits rein medizinischer Fragestellungen schaffen. Im Rahmen der zweiten Podiumsdiskussion „Living MS – soziale Aspekte der Behinderungsprogression“ setzten sich eine MS-Betroffene, drei Neurologen, ein Gesundheitsökonom und ein Coach, der nicht nur MS-Erkrankte zu seinen Klienten zählt, sondern das Leben mit MS darüber hinaus aus eigener Erfahrung kennt, mit dem Thema der sozialen Ausgrenzung von Menschen mit MS auseinander.
Bereits die Diagnose MS per se kann Menschen sozial ins Hintertreffen bringen, wie Barbara Blaschke, eine junge, seit Jahren von MS betroffene Frau, aus eigener Erfahrung berichtete. Und dies, obwohl Menschen mit MS auch Dank der Errungenschaften der modernen Medizin heute viele Jahre oder sogar Jahrzehnte ein körperlich nahezu uneingeschränktes Leben führen können. Diese Tatsache ist Medizinern bewusst, in der Allgemeinbevölkerung aber wenig bekannt – eine Wissenslücke, die für MS-Betroffene gravierende negative Konsequenzen hat.
Die Initiative „Perspektive inklusive!“ soll Barrieren in den Köpfen abbauen, falsche Zuordnungen bezüglich MS korrigieren und An- stoß zu einem Umdenken auf vielen Ebenen der Gesellschaft geben. [...]
Wie unterscheiden sich die sozialen Auswirkungen der Multiplen Sklerose von denen anderer neurologischen Erkrankungen?
Wie die meisten neurologischen Erkrankungen ist Multiple Sklerose eine chronische Erkrankung. Ein ganz entscheidender Unterschied liegt darin, dass Multiple Sklerose bereits sehr junge Menschen betrifft, junge Frauen noch häufiger als junge Männer. Die Erkrankung wird lebensbegleitend und spielt in allen Aspekten des Lebens eine wichtige Rolle. Bei Diagnosestellung stehen die Betroffenen sehr oft am Anfang ihres Arbeitslebens und denken über Familiengründung nach.
Was hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten auf dem Gebiet der Multiplen Sklerose verändert?
Das Krankheitsbild der MS ist ein völlig anderes als noch vor einigen Jahrzehnten. Der gravierendste Unterschied ist der deutlich geringere Anteil der Patienten mit ausgeprägter Behinderung. Die Medizin hat wesentliche Fortschritte gemacht. Vor der Einführung der Beta-Interferone hatten wir überhaupt keine Möglichkeit, in den Verlauf der Erkrankung einzugreifen. Heute steht uns ein ganzes Spektrum an Therapien zur Verfügung und wir wissen, dass Patienten von einer frühzeitigen krankheitsmodifizierenden Behandlung profitieren. Die Entscheidung hierfür wird gemeinsam von Patient und Arzt gefällt.
Stimmt das Bild, das die Bevölkerung von Multipler Sklerose hat?
Nein. In der Bevölkerung ist noch nicht angekommen, dass MS-Betroffene heute über lange Jahre ein gesundheitlich nicht oder kaum einge- schränktes Leben führen können. Dieses Wissen muss verbreitet werden, weil es die Art und Weise verändert, wie wir auf MS-Betroffene zugehen.
Univ.-Prof. Dr. Eduard Auff, Vorstand der Universitätsklinik für Neurologie, MedUni Wien
Welchen Beitrag können Ärzte, die Gesellschaft und die MS-Betroffenen selbst dazu beitragen, dass MS nicht mehr ins soziale Abseits führt?
Zu allererst brauchen wir eine Täter-Opfer-Umkehr. Es kann nicht darum gehen, dass MS-Betroffene beweisen, wozu sie in der Lage sind, sondern die Gesellschaft muss in allen Bereichen aktiv gegen die Stigmatisierung dieser Menschen vorgehen. Die medizinische Betreuung von MS-Betrof- fenen an eigenen Zentren durch spezialisierte Ärzte gibt die Möglichkeit zu intensiven, vertrauensvollen Gesprächen, die über die rein medizini- schen Belange hinausgehen. Im Alltag erfahren viele Betroffene aber alleine durch die Diagnose bedingt eine permanente Abwertung, die schwer zu ertragen ist. Dabei ist die Hälfte von ihnen noch nach zehn Jahren nicht oder kaum körperlich eingeschränkt. Das Problem findet auf einer ande- ren, nämlich auf gesellschaftlicher Ebene statt. Hier muss angesetzt werden.
Ziehen alle politischen Gruppen an einem Strang?
Das Spannungsfeld zwischen Individual- und Volksgesundheit wird immer größer. Hinzu kommt, dass die „stakeholder“ sehr heterogen sind. Patienten, „care giver“, „health care professionals“, Arbeitgeber, das Arbeitsmarktservice und die Sozial- und Pensionsversicherungen, um nur einige zu nennen, vertreten durchaus etwas unterschiedliche Interessen. Interventionen können für diese Gruppen durchaus divergierende Konse- quenzen haben, was die Einschätzung der Situation beeinflussen kann. Um Programme zur besseren sozialen Integration entwickeln zu können, brauchen wir mehr fundierte und interessensneutrale Daten. Daran mangelt es in Österreich.
Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger, Stv. Klinikdirektor der Universitätsklinik für Neurologie, MedUni Innsbruck
Wodurch fühlen Sie sich in Ihrem Leben MS-bedingt am meisten eingeschränkt?
Mich beeinträchtigt der Blick der Gesellschaft auf mich als Person, der durch meine Diagnose und die falsche Vorstellung der Bevölkerung darauf bestimmt wird. Fällt der Begriff MS, ist der erste Gedanke der an den Rollstuhl, und Mitleid kommt auf. Bei den meisten MS-Betroffenen verläuft die Krankheit aber günstiger. In erster Linie wünsche ich mir ein neues Bewusstsein von MS in der Bevölkerung. Fragen wie „Und da geht’s dir trotzdem so gut?“ möchte ich vermeiden. Mir geht es gesundheitlich gut und mein Leben wird nicht durch die Erkrankung beherrscht. Deshalb möchte ich zumindest versuchen, das Bild eines MS-Kranken in der Öffentlichkeit ein klein wenig zu verändern.
Was wünschen Sie Menschen, bei denen MS diagnostiziert wird?
Ich wünsche ihnen, neben einem Bewusstseinswandel in der Gesellschaft etwas, was mir zu Beginn meiner Erkrankung gefehlt hat: der Austausch mit Menschen in derselben Situation. Ich war bei Diagnosestellung ein Kind und hatte nicht die Möglichkeit, mit Gleichaltrigen in derselben Situa- tion zu sprechen. Das wäre mir sehr wichtig gewesen. Menschen, bei denen MS neu diagnostiziert wird, würden auch von mehr Information darüber profitieren, wie sich ihre Erkrankung auf den Alltag auswirken kann. Menschen mit länger bestehender MS könnten ins Boot geholt werden, um Fragen zu beantworten, die MS-Betroffene gerade zu Beginn beschäftigen, wie: Muss ich täglich mit einem neuen Schub rechnen? Werde ich in zwanzig Jahren im Rollstuhl enden? Ihnen kann ich sagen, dass diese Gedanken für mich sehr weit weg sind. Ich denke nicht darüber nach, was in 20 Jahren sein wird. Es gehört zum Leben mit MS, dass sich die Erkrankung von einem Tag auf den anderen ändern kann. Ich mache mir darüber Gedanken, wenn es soweit ist.
Barbara Blaschke, MS-Betroffene, in Behandlung seit 1997
Was ist soziale Integration?
Ein gesunder Mensch ist liebes- und arbeitsfähig und hat die Möglichkeit, sein Leben im beruflichen und im privaten Bereich nach eigenen Vor- stellungen zu organisieren und zu gestalten. Soziale Integration bedeutet, dem eigenen Wunsch entsprechend die Möglichkeit zu haben, das eigene Leben zu finanzieren und zu organisieren, zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen und zu pflegen, gesellschaftlich aktiv zu sein und sexuelle Kontakte einzugehen. Darin sollten wir alle MS-Betroffene unterstützen.
Wo beginnt das soziale Abseits?
Das soziale Abseits beginnt überall dort, wo Menschen um die Möglichkeit gebracht werden, ihr Leben selbstbestimmt zu gestalten. Das sind nicht nur eklatante Einschränkungen im Berufsleben, die bei MS-Betroffenen sehr häufig sogar zum Ende der beruflichen Laufbahn führen, sondern auch Einschränkungen in den Sozialkontakten, weil MS-Betroffenen zu wenig zugetraut wird oder sich zu wenig zutrauen, bis hin zu einer veränderten Situation in der Partnerschaft, in der sich das Gleichgewicht zwischen den Partnern durch die Krankheit zu verschieben beginnt.
Was kann die Medizin dazu beitragen, dass Patienten mit MS sozial integriert bleiben?
Wir haben mittlerweile ein ganzes Spektrum an Therapien zur Verfügung, mit denen wir nicht nur die Schubrate verringern, sondern auch die Behinderungsprogression verlangsamen können. Mittlerweile stecken wir uns das Ziel, Krankheitsaktivität möglichst vollständig zu unterbinden, das bedeutet: keine Schübe, keine Behinderungsprogression und keine Krankheitsanzeichen in der Magnetresonanztomographie. Das erfordert eine intensive Betreuung, die in Österreich an spezialisierten Zentren gewährleistet ist.
Univ.-Prof. Dr. Siegrid Fuchs, Klinische Abteilung für Neurogeriatrie, MedUni Graz
Sind Multiple Sklerose und beruflicher Erfolg vereinbar?
Durchaus, wie einige meiner Klienten, die ich als Coach berate, zeigen. Es sind großartige Menschen, die etwas aus ihrem Leben gemacht haben. Sie sind der Beweis dafür, dass sich Patienten mit MS durchaus mehr zutrauen sollten, aber auch, dass die Gesellschaft ihnen mehr zutrauen sollte. Nicht zu leugnen ist, dass die Erkrankung psychisch belastend ist. Ich bin seit 20 Jahren betroffen und mache mir durchaus Sorgen um die zukünf- tige Entwicklung der Erkrankung. Aber das ist kein Grund für mich, nicht beruflich und sozial aktiv zu sein.
Wird vonseiten der Politik genügend für Patienten mit Multipler Sklerose getan?
Die politische Entwicklung in Österreich und auch in Europa geht in die richtige Richtung. Im Jahr 2008 wurde die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen unterschrieben. Wünschenswert wäre neben der sehr guten medizinischen Betreuung ein Ausbau der psychischen Unterstützung von Betroffenen. Die psychische Belastung durch die Erkrankung trägt wesentlich zu den Einschränkungen im Alltag bei. Das erlebe ich täglich in der Betreuung meiner Klienten, von denen viele chronisch krank sind.
Arndt Praxmarer, MSC, akad. Coach und Trainer (@arndtwort.at) und Referent des Dritten Präsidenten des Nationalrates
Welche ökonomischen Konsequenzen kann Multiple Sklerose für die Betroffenen haben?
Die Stigmata und Belastungen durch MS können bei jüngeren Betroffenen dazu führen, dass sie ihr „Lebenspotential“ nicht ganz ausschöpfen. Vielfach verändert sich krankheitsbedingt die Ausbildungs-, Lebens- und Karriereplanung nachteilig. Charakteristisch sind krankheitsbedingte perforierte Erwerbskarrieren, die nicht nur die Lebensqualität, sondern auch eine Lebensverdienstsumme und damit zwangsläufig die Pensionsan- sprüche verringern („scarring effect“).
Welche arbeitspolitischen Konsequenzen sollten gezogen werden?
Der gesellschaftliche Umgang mit chronischen Erkrankungen, insbesondere auch in der Arbeitswelt, kann aus sozialpolitischer Sicht nicht länger ein „vernachlässigbares Minderheitenprogramm“ sein, sondern muss – schon wegen der großen Zahl von Betroffenen – in den Fokus anstehender Reformen rücken. Denn es geht nicht alleine um den ökonomischen Aspekt der Arbeitslosigkeit, sondern auch um die Tatsache, dass Berufstätig- keit die Lebensqualität per se verbessert. Wichtig erscheint mir auch, bereits Kinder und Jugendliche in Selbstwirksamkeit zu schulen, um sie für schwierige Lebenssituationen zu wappnen.
Hon. Prof. (FH) Dr. Bernhard Rupp, MBA, Gesundheitsökonom, Karl Landsteiner Privatuniversität für Gesundheitswissenschaften, Krems