ÖGN-Symposium
Das Gespräch mit PatientInnen mit Multipler Sklerose über Nutzen und Risiko verschiedener MS-Therapeutika ist ein ganz wesentlicher Teil der Arzt-PatientIn-Kommunikation. Diese wird bei PatientInnen mit Migrationshintergrund, die nur wenig oder kein Deutsch sprechen, zur besonderen Herausforderung. Und das nicht nur aufgrund der Sprachbarriere [...]
bevor Sie den erweiterten Inhalt dieser Seite sehen können.
Ihre Daten werden auf Korrektheit überprüft.
Interferon beta-1a s. c. (Rebif®)
Das Gespräch mit PatientInnen mit Multipler Sklerose über Nutzen und Risiko verschiedener MS-Therapeutika ist ein ganz wesentlicher Teil der Arzt-PatientIn-Kommunikation. Diese wird bei PatientInnen mit Migrationshintergrund, die nur wenig oder kein Deutsch sprechen, zur besonderen Herausforderung. Und das nicht nur aufgrund der Sprachbarriere. Redaktion: Dr. Claudia Uhlir
Ein Symposium von Merck* bei der diesjährigen ÖGN-Jahrestagung war zwei sehr komplexen Herausforderungen in der Betreuung von PatientInnen mit Multipler Sklerose (MS) gewidmet. Univ.-Prof. Dr. Siegrid Fuchs, Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Graz, beleuchtete die Risiko-Nutzen-Bewertung moderner MS-Therapien – ein schwieriges Thema vor dem Hintergrund der zunehmenden Therapieoptionen, zu denen meist keine direkten Vergleichsstudien vorliegen.
Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger, Universitätsklinik für Neurologie, Medizinische Universität Innsbruck, gab in Vertretung von Univ.-Prof. Dr. Siegrid Fuchs einen Einblick in die Hürden, denen sich Ärzte gegenübersehen, die MS-PatientInnen mit Migrationshintergrund betreuen. An der MedUni Innsbruck bietet eine transkulturelle Ambulanz türkeistämmigen PatientInnen die Möglichkeit, von einer Ärztin betreut zu werden, die ihre Muttersprache spricht und die Besonderheiten des kulturellen Hintergrundes kennt.
Wirksamkeit, Sicherheit und Verträglichkeit sind wesentliche Kriterien für die Wahl eines MS-Therapeutikums. Eine breite Palette von MS-Therapien ermöglicht es heute, die Behandlung hinsichtlich Wirksamkeit, Sicherheit und Applikationsmodus auf die individuelle Situation der Patientin/des Patienten abzustimmen, so Fuchs. Die Wahl des Therapeutikums stellen Leitlinien heute in weiten Bereichen frei: „Die Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie differenzieren zwischen MS-Therapeutika für milde Verlaufsformen, wie Dimethylfumarat, Glatirameracetat, Interferone und Teriflunomid, und MS-Therapeutika für aktive bzw. hochaktive Verlaufsformen, wie Alemtuzumab, Fingolimod und Natalizumab.“1 Wie Fuchs hervorhob, seien die MS-Therapeutika innerhalb dieser beiden Kategorien alphabetisch gereiht. Präferenz oder Gewichtung fehlen.
Wandel der Wirksamkeitsparameter: Die medizinische Einschätzung von Wirksamkeit und Sicherheit von MS-Therapeutika erfolge in erster Linie auf Basis der wissenschaftlich nachgewiesenen Effekte, so Fuchs. Sie verwies darauf, dass die in Studien untersuchten Wirksamkeitsparameter nicht unbedingt den Kriterien entsprechen, die Patientinnen und Patienten besonders wichtig sind. So zeigt eine Analyse, dass sich MS-PatientInnen auf körperlicher Ebene von einer MS-Therapie in erster Linie den Erhalt der Geh- und Sehfähigkeit, Schmerzvermeidung und einen positiven Effekt auf Kognition und Gedächtnis erwarten.2 „In Studien wird primär die Wirkung von MS-Therapeutika auf klinische Schübe, Behinderungsprogression und MRT-Aktivität untersucht. Freiheit von allen diesen Faktoren wird unter dem Begriff ‚Freiheit von Krankheitsaktivität‘ – ‚no evidence of disease acitvity‘ (NEDA) – zusammengefasst. In letzter Zeit ist als weiteres Maß für die Wirksamkeit der Effekt einer Therapie auf das Hirnvolumen hinzugekommen. Die praktische Relevanz dieses Parameters ist allerdings noch unklar“, sagte Fuchs.
Unterschiedliche Sicherheitsprofile: Problematisch sei, so Fuchs, dass viele MS-Therapeutika in ihrer Wirkstärke nicht unmittelbar verglichen werden können, da Head-to-Head-Studien fehlen. Beim streng wissenschaftlich nicht zulässigen Vergleich der Wirksamkeit anhand verschiedener Studien sei zudem zu bedenken, dass sich die PatientInnenkollektive der ersten Studien zu Beta-Interferonen maßgeblich von den PatientInnenkollektiven neuerer Studien unterscheiden. Anders als Beta-Interferone sind einige der neueren MS-Therapeutika mit zum Teil gravierenden Nebenwirkungen behaftet, wie progressive multifokale Leukenzephalopathie (PML), Autoimmunerkrankungen oder generell erhöhte Infektanfälligkeit. Fuchs merkte an, dass zu den neueren MS-Therapeutika kaum Langzeitdaten vorlägen.
Risikobewertung durch die PatientInnen: Ärzte und PatientInnen kommen häufig zu einer etwas unterschiedlichen Bewertung des Risikos eines MS-Therapeutikums.3 „Die Risikoeinschätzung durch PatientInnen ist abhängig von der Situation und der jeweiligen Persönlichkeit. Auch die Art und Weise, wie über das Risiko informiert wird, beeinflusst die Risikowahrnehmung“, sagte Fuchs.
Bei der Nutzen-Risiko-Abwägung und bei der Therapiewahl seien neben dem individuellen Krankheitsverlauf und eventuellen Risikofaktoren (z. B. Vorbehandlung, positiver JC-Virus-Antikörper-Test, Begleiterkrankungen) auch die Erwartungen, Ängste und Lebensumstände der PatientInnen zu berücksichtigen, wie Berufssituation, Familiensituation oder Kinderwunsch. „Wir sollten uns auch einen Eindruck von der allgemeinen Einstellung der Patientin bzw. des Patienten zum Krankheitsmanagement machen. Die verschiedenartigen Therapeutika ermöglichen eine zunehmend individuellere Therapie, mit der wir auch die persönlichen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten berücksichtigen können“, sagte Fuchs.
Bedingt durch die Zuwanderung wächst die Zahl von PatientInnen mit Migrationshintergrund an österreichischen MS-Zentren. Das stellt die behandelnden Ärztinnen und Ärzte vor die verschiedensten Herausforderungen. An der Universitätsklinik für Neurologie Innsbruck hat man auf diese Entwicklung durch Etablierung einer transkulturellen Ambulanz unter der Mitarbeit von Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger reagiert.
Kein Muss, sondern ein Angebot: Wie Berger ausführte, richte sich das Angebot an die rund 100 türkeistämmigen PatientInnen mit MS, die an der Universitätsklinik betreut werden: „Es ist kein Muss. Die PatientInnen können wählen, ob sie muttersprachlich betreut werden wollen oder von einer anderen Kollegin oder einem anderen Kollegen. Wir haben festgestellt, dass sich manche PatientInnen mit Migrationshintergrund durch diese ‚Spezialbehandlung‘ zurückgesetzt fühlen. Bei manchen PatientInnen erzeugt sie ein Gefühl des ‚Nichtdazugehörens‘.“ Bereits als man die transkulturelle Ambulanz ins Leben rief, war man sich verschiedener herausfordernder Faktoren bewusst.
Göttliche Erklärungsmodelle: Schnell erkannte man, dass die kulturell unterschiedliche Sozialisationen zu verschiedenartigen Zugängen zur MS und zu unterschiedlichen Coping-Strategien führen. „Türkeistämmige PatientInnen gehören verschiedenen Ethnien an, weshalb der Begriff ‚türkischstämmig‘ für Patientinnen und Patienten aus der Türkei nicht ganz korrekt ist. PatientInnen an unserer Klinik sind vorwiegend türkischer Ethnie und sunnitisch konservativ sozialisiert. Sie greifen mitunter auf göttliche Erklärungsmodelle für Krankheiten zurück. Eine Erkrankung wird als gottgegeben gesehen und muss nicht erklärt oder verstanden werden. Religiosität ist dann aber neben höherem Ausbildungsgrad, günstigen sozialen Lebensumständen und einer subjektiv geglückten Integration ein günstiger Faktor für ein erfolgreiches Coping. Türkisch-alevitische PatientInnen, die weniger religiös sozialisiert sind, greifen hingegen oft zu Coping-Strategien kreativen Inhalts, wie Literatur oder Musik.“
Bereitschaft zu extremer Einschränkung: Eine Besonderheit türkeistämmiger PatientInnen im Umgang mit MS ist, dass sie und zum Teil auch ihre Angehörigen oft zu einer maximalen Risikominimierung bereit sind. Vielfach werden sogar extreme Einschränkungen der Lebensführung in Kauf genommen. In der Hoffnung, durch Stressvermeidung Heilungsprozesse zu fördern, reduzieren diese Menschen beispielsweise ihre Sozialkontakte bis hin zur Vereinsamung. „Resignation, Regression und Schonung bis hin zur Akzeptanz einer Bevormundung verstärken den sekundären Krankheitsgewinn“, sagte Berger.
Aufwertung „kultureigener“ Ärztinnen und Ärzte: Schwierigkeiten in der Arzt-Patient-Beziehung innerhalb und außerhalb einer transkulturellen Ambulanz entstehen durch die Aufwertung der „kultureigenen“ Ärztinnen und Ärzte und Abwertung aller anderen Ärztinnen und Ärzte, berichtete Berger. Er erläuterte: „Türkeistämmige PatientInnen haben die Erwartung, dass eine ‚kultureigene‘ Ärztin die Beschwerden besser verstehen, behandeln oder gar heilen kann. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass türkeistämmige PatientInnen zumindest einmal eine Kollegin/einen Kollegen in der Türkei konsultieren.“ Oft werden zudem negative Aspekte der Migrationsgeschichte auf die aufzunehmende Gesellschaft projiziert, so Berger. Das könne zu Vertrauensdefiziten in der Arzt-Patient-Beziehung und zu verstärkten somatischen Beschwerden führen. „Die muttersprachliche Betreuung von PatientInnen mit MS an der transkulturellen Ambulanz an der Universitätsklinik für Neurologie in Innsbruck ermöglicht PatientInnen einen kultursensitiven und kulturkompetenten Zugang zur Behandlung der MS“, schloss Berger.
* „Reise in das Universum der Therapie der Multiplen Sklerose“,
Symposium von Merk im Rahmen der ÖGN-Jahrestagung 2016, 16. 3. 2016, Innsbruck