4. Podiumsdiskussion
Das Gesicht der Multiplen Sklerose (MS) hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten sehr stark gewandelt. Die Erkrankung wird früher diagnostiziert und therapiert als noch vor einigen Jahren, und die medizinische Betreuung umfasst mittlerweile weit mehr als die alleinige medikamentöse Therapie.
Heute lebt mehr als Hälfte der MS-Betroffenen ohne oder mit nur leichter Behinderung, wie eine Befragung aus dem Jahr 2011 zeigt. Das ist eine sehr deutliche Verbesserung gegenüber dem Jahr 1999, als dies auf weniger als ein Drittel der Menschen mit MS zutraf. Umgekehrt ergab die Erhebung 2011 nur bei 16% der MS-Betroffenen einen höheren Behinderungsgrad, im Vergleich zu 36% im Jahr 1999.
Die medizinische Betreuung von Menschen mit MS schließt als ganz wesentliche Komponente auch mögliche psychische Aspekte ...
Jede Diagnose ist per se eine psychische Belastung. Umso mehr, wenn die Diagnose eine potentiell chronische Erkrankung wie Multiple Sklerose betrifft und jene auch noch stigmatisiert ist. Daher ist es bereits zum Zeitpunkt des Diagnosegesprächs von immanenter Bedeutung, gemeinsam mit dem Patienten die Saat zur individuellen Bewältigungsstrategie zu setzen und diesen Umgang mit MS kontinuierlich als „Leben mit MS“ zu entwickeln. Kernelemente dieser Strategie sind u.a. Optimismus, Zukunftsorientierung, Information, Selbstwert und Selbstbewusstsein, Ziele und Umsetzung der Lebenspläne (um nur einige zu nennen) – basierend auf der Persönlichkeit des Betroffenen mit seinen individuellen Vorstellungen, Wünschen, aber auch Sorgen und Ängsten. Zusätzlich gilt es aber auch von neurologischer Seite wahrzunehmen, wann eine spezifische psychologische Beratung/Betreuung bzw. Psychotherapie gewünscht oder notwendig ist.
Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger, Universitätsklinik für Neurologie, MedUni Innsbruck
Bei zahlreichen Erkrankungen spielen psychische Aspekte eine Rolle. Dies gilt insbesondere für chronische Erkrankungen und Erkrankungen des Nervensystems. Die Probleme und Einschränkungen die sich aus einer langdauernden und eventuell das gesamte Leben begleitenden Erkrankung ergeben, bedürfen naturgemäß einer entsprechenden psychischen Aufarbeitung und fortwährenden Anpassung. Das Gelingen der „seelischen Adaptation“ beeinflusst umgekehrt jedenfalls die Dimension der empfundenen Problematik und hat wohl auch Rückwirkungen auf die Erkrankung selbst. Erkrankungen des Gehirns beeinflussen darüber hinaus selbst die Möglichkeiten der psychischen Verarbeitung und können direkt psychische Erkrankungen auslösen oder zumindest fördern. Diese Komplexität ist auch bei der Multiplen Sklerose gegeben. Die Betreuung unserer Patienten gestaltet sich deshalb vielschichtig und muss auch Möglichkeiten der therapeutischen Intervention berücksichtigen, die über die medikamentöse Behandlung hinausgehen.
Univ.-Prof. Dr. Franz Fazekas, Universitätsklinik für Neurologie, MedUni Graz
Bei Zunahme der Behinderung im Verlauf von MS sind Unterstützungen vonseiten der behandelnden Ärztinnen und Ärzte nicht nur im Bereich der spezifischen MS-Therapien nötig, sondern auch begleitend im Umgang mit der Erkrankung, in der Verarbeitung eines geänderten Selbstbildes und mit einem Körper, der manche Funktionen nicht erbringen kann. Zudem müssen MS-Betroffene dieses geänderte Bild von sich mit ihrer Erkrankung auch an ihre Umwelt vermitteln und sich in einer fordernden Gesellschaft integrieren und behaupten.
Trotz eventueller Zunahme der Behinderung ist es wichtig, MS-Betroffene in der Präsentation ihrer Persönlichkeit – und nicht vordergründig ihrer Krankheit – zu unterstützen und sie in der Durchsetzung ihrer Lebenspläne zu begleiten.
Univ.-Prof. Dr. Siegrid Fuchs, Universitätsklinik für Neurologie, MedUni Graz
Chronisch Kranke haben ein erhöhtes Risiko, im Verlauf der Erkrankung an psychosozialen Belastungen zu leiden. Bei Patienten mit Multipler Sklerose sind psychische Symptome deutlich häufiger als in der Allgemeinbevölkerung. Psychische Belastungen begleiten Patienten unter Umständen das ganze Leben und haben in Abhängigkeit von der Grunderkrankung einen individuell unvorhersehbaren Verlauf. Das Ausmaß der psychischen Begleitsymptomatik wird weniger durch medizinische Faktoren als durch die sozioökonomische Situation der Patienten bestimmt. Jüngere Frauen mit einer ungünstigen wirtschaftlichen Situation haben stark ausgeprägte Zukunftssorgen und eine erhöhte Vulnerabilität für Angst- und Depressionserkrankungen. Diese Risikogruppe ist in der Behandlung von Patienten mit Multipler Sklerose besonders zu beachten.
Univ.-Prof. Dr. Elfriede Greimel, Klinische Psychologin, Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin, LKH Universitätsklinikum Graz
Die körperliche Integrität, die durch erste Krankheitszeichen einer schubartig verlaufenden Krankheit bedroht ist, führt zu einer Trauerreaktion. Trauer ist emotionale Arbeit, die zum Ziel hat, sich selbst ein freies Leben ohne den Aspekt, der verloren gegangen ist, in diesem Fall die Gesundheit, zu ermöglichen. Es ist natürlich eine große Herausforderung, sich selbst ein behindertes Leben vorstellen zu können. Die Unsicherheit der Krankheitsprogression, das Wechselspiel von Hoffnung und Verzweiflung sind weitere schwer bewältigbare Herausforderungen. Es zeigt sich jedoch in der Praxis, dass Menschen sehr unterschiedlich mit ihrem Leiden zurechtkommen. Wesentlich dabei sind Resilienzfaktoren, deren Vorhandensein über die Bewältigungskompetenz entscheiden.
Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Lehofer, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, LKH Graz Süd-West
Die Erkenntnis an einer chronischen Krankheit zu leiden ist für einen Menschen nicht sehr leicht. Im Speziellen die Übermittlung ist eine sensible Angelegenheit und genau dafür sollten sich Ärzte Zeit nehmen und viel Verständnis aufbringen. Das Gefühl zu haben, nicht alleine gelassen zu werden, auf all die Fragen Antworten zu erhalten, Vertrauen und Aufrichtigkeit zu spüren und Unterstützung zu erfahren, ist eine der wichtigsten Stützen in der Anfangsphase. Wichtig wäre natürlich auch, dass die dafür nötigen Untersuchungen zur endgültigen Abklärung und Statusbestimmung einer nicht zu langen Wartezeit bedürfen.
Alfred Wukitsevits, MS-Betroffener und Triathlet
TEILNEHMER/Innen: Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger, Universitätsklinik für Neurologie, MedUni Innsbruck; Univ.-Prof. Dr. Elfriede Greimel, Klinische Psychologin, Gesundheitspsychologin, Psychotherapeutin, LKH Universitätsklinikum Graz; Univ.-Prof. Dr. Siegrid Fuchs, Universitätsklinik für Neurologie, MedUni Graz; Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Lehofer, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, LKH Graz Süd-West; Alfred Wukitsevits, MS-Betroffener und Triathlet
MODERATOR: Univ.-Prof. Dr. Franz Fazekas, Universitätsklinik für Neurologie, MedUni Graz
Das Gesicht der Multiplen Sklerose (MS) hat sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten sehr stark gewandelt. Die Erkrankung wird früher diagnostiziert und therapiert als noch vor einigen Jahren, und die medizinische Betreuung umfasst mittlerweile weit mehr als die alleinige medikamentöse Therapie.
Heute lebt mehr als Hälfte der MS-Betroffenen ohne oder mit nur leichter Behinderung, wie eine Befragung aus dem Jahr 2011 zeigt. Das ist eine sehr deutliche Verbesserung gegenüber dem Jahr 1999, als dies auf weniger als ein Drittel der Menschen mit MS zutraf. Umgekehrt ergab die Erhebung 2011 nur bei 16% der MS-Betroffenen einen höheren Behinderungsgrad, im Vergleich zu 36% im Jahr 1999. (1)
Die medizinische Betreuung von Menschen mit MS schließt als ganz wesentliche Komponente auch mögliche psychische Aspekte der Erkrankung ein. Diese standen im Fokus der vierten Veranstaltung im Rahmen der Diskussionsreihe „Perspektive inklusive“ von Merck Österreich. Moderiert von Univ.-Prof. Dr. Franz Fazekas, Universitätsklinik für Neurologie, MedUni Graz, wurde das Thema aus ärztlichem, psychologischem und psychiatrischem Blickwinkel beleuchtet. Den Blickwinkel des MS-Betroffenen brachte Alfred Wukitsevits ein, bei dem im Jahr 2009 die Diagnose MS gestellt worden war, und dem nach Überwindung einer anfänglich schwierigen Situation ein aktives, erfülltes Leben gelingt.
ERHÖHTES RISIKO FÜR PSYCHISCHE PROBLEME
MS erhöht wie jede chronische Krankheit das Risiko für psychische Probleme. Wie die Psychologin und Psychotherapeutin Univ.-Prof. Dr. Elfriede Greimel, LKH Universitätsklinikum Graz, ausführte, entwickelt zwischen einem Drittel und der Hälfte der chronisch Kranken eine psychische Störung (2). Menschen mit MS leiden in weit höherem Maß an Depressionen als die Durchschnittsbevölkerung (Major Depression 36 bis 54% versus 16,2%), auch bipolare Störungen, Angststörungen und Anpassungsstörungen sind bei MS-Betroffenen deutlich häufiger. (3,4)
Univ.-Prof. Dr. Siegrid Fuchs, Universitätsklinik für Neurologie, MedUni Graz, und Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger, Universitätsklinik für Neurologie, MedUni Innsbruck, berichteten übereinstimmend, dass der psychische Aspekt der MS einen sehr breiten Raum in der Betreuung von MS-Betroffenen einnimmt. Neurologen begleiten MS-Patienten meist über eine sehr lange Zeitspanne, was zu sehr engen Beziehungen zwischen Ärzten und Patienten führe, so Berger. Er sieht sich als Coach seiner Patienten und empfindet diesen Bereich seiner Tätigkeit als besonders bereichernd.
DIE INDIVIDUELLE PSYCHISCHE SITUATION ERFASSEN
Die Diagnose MS ist vielfach niederschmetternd. Sie kann das Gefühl von Kontrollverlust, Unsicherheit, Hilflosigkeit und Angst vor Abhängigkeit und vor Stigmatisierung auslösen. „Das Ausmaß der psychischen Traumatisierung hängt von der individuellen Resilienz und der Stabilität der Individualität ab. Entscheidenden Einfluss hat, wie weit die Erkrankung die Grundpfeiler der eigenen Identität bedroht“, erläuterte Prim. Univ.-Prof. Dr. Michael Lehofer, Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie, LKH Graz. Er warnte: „Wir als behandelnde Ärzte dürfen nicht glauben, dass wir wissen, wie es dem Betroffenen geht. Die psychische Betroffenheit ist individuell sehr unterschiedlich und sollte geklärt werden.“ Lehofer riet Ärzten dazu, im Umgang mit den Patienten authentisch zu sein, die eigenen Gefühle mitzuteilen und die eigene Gefühlslage mit der des Patienten abzugleichen. Die dadurch gewonnene Klarheit verbessere die Kommunikation.
DER ANGST DURCH INTENSIVE UNTERSTÜTZUNG ENTGEGENWIRKEN
Ein ganz wesentlicher Belastungsfaktor im Rahmen der Krankheitsbewältigung ist die Angst vor dem Fortschreiten der Erkrankung. Greimel erläuterte: „Die Progredienzangst ist keine Angststörung, sondern eine Furcht, die aus einer schweren, potentiell lebensbedrohlichen oder zur Behinderung führenden Erkrankung resultiert.“ Ängste dürften nicht verstärkt werden, sondern man müsse ihnen entgegenwirken, forderte Berger: „Wir müssen Patienten mit MS stufenweise an die Erkrankung heranführen und dürfen keine Ängste, Sorgen oder Furcht induzieren.“ Fuchs ergänzte: „Es ist notwendig, das Bild, das in der Öffentlichkeit von MS besteht, geradezurücken. Denn berichtet wird nur von schweren Fällen, während die vielen benignen MS-Verläufe nicht sichtbar sind. Das muss bei der Aufklärung angesprochen werden.“
Wukitsevits, der die Angst nach der Diagnosestellung erlebt hat, betonte: „Es ist sehr wichtig, die Phase der Angst so kurz wie möglich zu halten. Gerade unmittelbar nach der Diagnosestellung benötigen Menschen mit MS besonders viel Unterstützung von ärztlicher Seite. In möglichst mehreren Gesprächen sollte auf die Möglichkeiten hingewiesen werden, die sich in einem Leben mit MS bieten. Ich habe dreieinhalb Jahre mit der Angst gelebt. Hinzu kam die Einschränkung durch Empfehlungen, wie die Sonne zu meiden und keinen Sport zu betreiben. Ein Rehab-Aufenthalt, der für mich wie ein Trainingslager war, hat das völlig geändert. Sehr wichtig ist auch eine gute, kontinuierliche Arzt-Patient-Beziehung, wie sie zwischen mir und meiner behandelnden Ärztin besteht. Meine lange Frageliste wurde Schritt für Schritt abgearbeitet. Mittlerweile reichen Kontrollen in sehr langen Intervallen.“
Greimel unterstrich die Rolle der ärztlichen Betreuung: „Ärztinnen und Ärzte sind gefragt, ihre Patienten zu informieren, zu führen und emotional zu unterstützen. Erst wenn Ängste überhand nehmen, kann eine psychologische Unterstützung sinnvoll sein.“
ES ZAHLT SICH AUS, EIN OPTIMIST ZU SEIN
Krankheitsbezogene Zukunftsängste sind bei Menschen mit MS stärker ausgeprägt als bei Menschen mit Krebs, aber weniger vorherrschend als bei an Rheuma, Parkinson oder Morbus Crohn Erkrankten (Abb.) (5). Dies sei möglicherwiese darauf zurückzuführen, dass MS-Betroffene ihre Erkrankung nicht permanent wahrnehmen, so Greimel. Eine von Fuchs zitierte Befragung weist darauf hin, dass sich Patienten mit MS vor allem vor Einschränkungen beim Gehen, vor Sehstörungen und kognitiven Einbußen, aber kaum vor psychischen Auswirkungen wie Stimmungsproblemen fürchten (6). Tatsächlich seien psychische Aspekte der Erkrankung aber sehr relevant und ein ganz zentrales Element der medizinischen Betreuung, wie Fuchs betonte: „Die Erkrankungsverarbeitung, ein drohender oder realer Verlust des Arbeitsplatzes und dessen soziale Konsequenzen, sowie wirtschaftliche bzw. existenzielle Probleme, aber auch Partnerschaftsprobleme und soziale Isolation als Folge von körperlicher Behinderung belasten die Psyche.“
Für MS-Betroffene wie für jeden Menschen zahle es sich aus, ein Optimist zu sein, hielt Lehofer, fest: „Optimisten werden durch ungünstige Situationen weit weniger negativ beeinflusst als Patienten, die sich im Vorfeld Sorgen gemacht haben.“ Entgegen landläufiger Annahme wappne eine pessimistische Haltung nicht, sondern sie verstärkt die psychische Belastung durch ungünstige Ereignisse. Hinzu komme, so Lehofer, dass bei medikamentös gut behandelten MS-Patienten die Angst vor einem Schub keinen Zweck erfülle: „Diese Angst ist nachvollziehbar, aber nicht berechtigt. Diesen Unterschied sollte man sich vor Augen führen.“
MIT MS DIE EIGENEN PLÄNE WEITER VERFOLGEN
Greimel hob hervor, dass gerade jüngere Frauen in einer ungünstigen wirtschaftlichen Situation, die vom Verlust der Erwerbstätigkeit bedroht sind, besonders häufig von Zukunftsängsten betroffen seien (5): „Daher ist es wichtig, sie so lange wie möglich im Beruf zu halten.“ Fuchs hielt fest: „Wir werden häufig nach der Auswirkung von Stress auf die MS gefragt. Hierzu ist die Datenlage kontroversiell. Was wir aber sagen können ist: Anstrengung im Beruf ist erlaubt.“ Sie betonte: „MS-Betroffene sollten wissen, dass MS das Leben zwar beeinflusst, dass die üblichen Abläufe aber meist aufrecht erhalten werden können. Die Erkrankung sollte niemanden dazu veranlassen, sich stark einzuschränken. Im Gegenteil: Pläne sollten weiter verfolgt werden. Bei vielen MS-Betroffenen nimmt die MS einen gutartigen Verlauf. Das müssen wir Neurologinnen und Neurologen vermitteln.“
Aufgabe der betreuenden Ärzte sei es auch, Patienten einen gesunden Lebensstil nahe zu bringen und darüber zu informieren, was sich Menschen mit MS „zumuten“ können. Wie viel Spielraum trotz MS bleiben kann, machte Wukitsevits klar. Er ist beruflich erfolgreich und in seiner Freizeit als Triathlet sportlich sehr aktiv: „Mit MS ist sehr viel möglich. Das müssen Betroffene wissen. Sie sollten zur Aktivität motiviert werden.“
ZU HEITERER GELASSENHEIT FINDEN
Der Fokus einer psychologischen Unterstützung bei der Verarbeitung einer chronischen Krankheit liegt auf den Möglichkeiten und nicht auf den Defiziten. Lehofer hielt fest: „Wenn man die Krankheit aus Sorge in den Mittelpunkt des Denkens stellt, versäumt man das Leben.“ Er verwies auf die Trauer als wesentlichen Faktor für die Krankheitsbewältigung, wobei die Fähigkeit dazu sehr unterschiedlich ausgeprägt sei. Lehofer erläuterte: „Wenn Trauer nicht abgeschlossen werden kann, dann kommt es zu Verbitterung. Wird aber erkannt, dass die Erkrankung ein Faktum ist, mit dem gelebt werden muss, kommt es zu einer heiteren Gelassenheit bis hin zu einer Erlöstheit. Wenn man Probleme nicht lösen kann, muss man die Kapazität haben sich von ihnen zu erlösen. Das haben wir in unserer Gesellschaft weitgehen verlernt, da die Fiktion besteht, alles sei machbar. Als Ärzte müssen wir unsere Patienten dazu ermutigen, sich von ihren Problemen zu lösen.“
AUF DIE MÖGLICHKEITEN FOKUSSIEREN
Psychologische Interventionen haben, wie Greimel ausführte, einen lösungsorientierten Ansatz, der auf die Förderung des Selbstmanagements und der Autonomie der Patienten ausgerichtet sei: „Ziel ist die Normalisierung des Alltags und die gesellschaftliche und berufliche Integration. Die meisten Menschen mit MS können sehr viel. Das müssen wir bewusst machen. Nach einer gewissen Zeit der Verarbeitung können neue Perspektiven entstehen und chronisch kranke Patienten können durchaus mit ihrem Leben sehr zufrieden sein – vielleicht sogar zufriedener als vor der Erkrankung.“ Lehofer stimmte zu: „Eine Erkrankung wie MS kann in einer sehr verkorksten Lebenssituation sogar die Rettung für einen Menschen sein, der dadurch zu einer völlig neuen Lebensperspektive kommt. Einige wenige sagen sogar in radikaler Weise, sie seien noch nie so glücklich gewesen wie jetzt. Das wäre das Ziel einer Krankheitsbewältigung. Dazu ist aber nicht jeder Betroffene begabt und willens.“ Greimel hielt fest: „Entscheidend ist es, Patienten mit chronischen Erkrankungen immer wieder aus ihren Sorgen und Ängsten heraus ins Hier und Jetzt zurückzuholen und Bewusstsein für ihre Möglichkeiten zu schaffen.“