5. Podiumsdiskussion
Österreich hat als Zuwanderungsland bereits lange Tradition. Laut Statistik Austria waren 1,3 Mio. aller in Österreich lebenden Menschen Ausländer (Stand 2016). Sie machen damit ca. 15% der Bevölkerung aus. 39% von ihnen waren zu diesem Zeitpunkt bereits über zehn Jahre und 18% über fünf Jahre im Land. Hauptherkunftsland ist Deutschland, gefolgt von Serbien und der Türkei. Auch durch den Zustrom von Flüchtlingen nimmt der Anteil der Migranten aus anderen Kulturen zu, und damit der Bedarf an kultursensitiver medizinischer Betreuung. Die transkulturellen Aspekte der Betreuung von Patienten mit Multipler Sklerose (MS) waren Thema der fünften interdisziplinären Podiumsdiskussion im Rahmen der Reihe „Perspektive inklusive!“ von Merck Österreich. Moderiert von Univ.-Prof. Dr. Eduard Auff, Univ.-Klinik für Neurologie, Medizinische Universität Wien, wurden medizinische, pflegerische und gesundheitsökonomische Gesichtspunkte diskutiert ...
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Teilnehmer: Univ.-Prof. Dr. Eduard Auff, Univ.-Klinik Für Neurologie, Medizinische Universität Wien (Moderation); Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger, Univ.-Klinik Für Neurologie, Medizinische Universität Innsbruck; Univ.-Prof. Mag. Dr. PhDr. Wilhelm Frank MLS, Gesundheitssystemberatung; OA Dr. Oskar Janata, Donauspital – SMZ Ost, Wien; PD Univ. Lektor Dr. Andreas Klein, Hartinger-Klein Consulting, Universität Wien; DGKS Merima Milic-Alijagic, Klinikum Wels-Grieskirchen; OÄ Dr. Sabine Urbanits, Krankenhaus Barmherzige Brüder Eisenstadt
Österreich hat als Zuwanderungsland bereits lange Tradition (Abbildung 1). (1) Laut Statistik Austria waren 1,3 Mio. aller in Österreich lebenden Menschen Ausländer (Stand 2016). Sie machen damit ca. 15% der Bevölkerung aus. 39% von ihnen waren zu diesem Zeitpunkt bereits über zehn Jahre und 18% über fünf Jahre im Land. Hauptherkunftsland ist Deutschland, gefolgt von Serbien und der Türkei (Abbildung 2). (2,3)
Auch durch den Zustrom von Flüchtlingen nimmt der Anteil der Migranten aus anderen Kulturen zu, und damit der Bedarf an kultursensitiver medizinischer Betreuung. Die transkulturellen Aspekte der Betreuung von Patienten mit Multipler Sklerose (MS) waren Thema der fünften interdisziplinären Podiumsdiskussion im Rahmen der Reihe „Perspektive inklusive!“ von Merck Österreich. Moderiert von Univ.-Prof. Dr. Eduard Auff, Univ.-Klinik für Neurologie, Medizinische Universität Wien, wurden medizinische, pflegerische und gesundheitsökonomische Gesichtspunkte diskutiert.
Univ.-Prof. Dr. Thomas Berger, Univ.-Klinik für Neurologie, Medizinische Universität Innsbruck, verwies in seinem Impulsreferat auf das niedrigere Durchschnittsalter von Ausländern im Vergleich zu gebürtigen Österreichern (35 vs. 43 Jahre): „Damit ist der Anteil der Altersgruppe mit der höchsten MS-Prävalenz bei Ausländern höher als bei gebürtigen Österreichern.“
In den verschiedenen Ursprungsländern von Migranten wird MS sehr unterschiedlich häufig und deutlich seltener diagnostiziert als in Österreich. Einer Prävalenz in Österreich von geschätzt 144/100.000 steht eine Prävalenz von 65/100.000 (?) in Serbien, von 56/100.000 in der Türkei, von 31/100.000 (?) in Bosnien, von 49/100.000 (?) in Rumänien, von 50/100.000 (?) in Kroatien und von 100/100.000 in Ungarn gegenüber. „Entsprechend gering ist die Zahl der zu erwartenden MS-Neuerkrankungen bei Ausländern. Sie bewegt sich je nach Nationalität höchstens im unteren einstelligen Bereich. Mit der Betreuung von Migranten mit MS werden in erster Linie MS-Zentren in den Ballungsräumen befasst sein, da hier der Anteil der Migranten deutlich höher ist als in ländlichen Regionen Österreichs“, erläuterte Berger.
MS und Migration, transkulturelle MS-Ambulanz Innsbruck
In Innsbruck sind von insgesamt rund 3.000 betreuten MS-Patienten rund 100 türkeistämmig (3,6%) und ungefähr 100 wanderten aus Südosteuropa zu (3,6%). 75% dieser Patienten sind Frauen. „Diese Gruppe von Patienten hat uns beschäftigt“, erzählte Berger. Immer wieder war merkbar, dass sie sich nicht verstanden und nicht ernst genommen fühlten. Man hat darauf reagiert und eine transkulturelle MS-Ambulanz entwickelt. Migranten mit MS haben nun die Möglichkeit, in ihrer Muttersprache betreut zu werden. Wie Berger betonte, profitieren Menschen mit Migrationshintergrund sehr von einer kultursensitiven medizinischen Betreuung. Migration und die dadurch notwendigen Integrationsprozesse sind hochemotionale intrapsychische Prozesse. Sie bringen unausweichlich das Gefühl des Andersseins, das mit einem Mangel- bzw. Defiziterleben gekoppelt ist. Eine zusätzliche „exotische“ Erkrankung wie MS macht die Situation sehr komplex und bedarf einer Reflexion und Intervention auf mehreren Ebenen.
Der Migrationsprozess kann die Gesundheit maßgeblich beeinflussen. Es handelt sich häufig um ein kritisches Lebensereignis, im Zuge dessen sich Menschen mit einem für sie neuen Minoritätenstatus auseinandersetzen müssen, Diskriminierungen ausgesetzt sind und Anpassungsprozesse durchlaufen, die sich aus der Konfrontation mit einer neuen Kultur ergeben. Auch der nicht immer günstige soziale Status, eine schwierige berufliche Situation und eingeschränkte materielle Ressourcen können die Gesundheit beeinträchtigen, so Berger.
Die Sprachbarriere überwinden
Auch in Wels hat man auf die spezielle Situation von Migranten reagiert und eine Lösung für das Sprachenproblem gefunden. Diplomkrankenschwester (DGKS) Merima Milic-Alijagic, Klinikum Wels-Grieskirchen, selbst mit Migrationserfahrung, berichtete: „Die Sprachbarriere ist ein entscheidendes Problem. Auch wer bereits gutes Alltagsdeutsch spricht, ist nicht unbedingt mit den Ausdrücken vertraut, die zur Symptombeschreibung notwendig sind. Zudem ist es sehr schwierig, Gefühle in einer fremden Sprache mitzuteilen.“ Sie selbst unterstützt Patienten als Dolmetscherin und hat im Spital Personen ausfindig gemacht, die ebenfalls dazu bereit sind. Mittlerweile wurde so am Klinikum Wels-Grieskirchen ein internes Dolmetsch-System etabliert.
Transkulturelle Betreuung: mehr als eine Betreuung in der Muttersprache
Neben der Sprachbarriere kämpfen Migranten mit mangelnden Kenntnissen über das Gesundheits- bzw. Versicherungssystem sowie mit starren, an transkulturelle Erfordernisse nicht adaptierte intramuralen Strukturen. Als ehrenamtliche MIMI (MigrantInnen für MigrantInnen)-Lotsin hilft Milic-Alijagic Migranten auf dem Weg durch das österreichische Gesundheitssystem. Viele Migranten kennen beispielsweise das Prinzip der Hausärzte als erste Anlaufstelle in medizinischen Fragen nicht. Das ist ein wesentlicher Grund dafür, dass sie sich primär an das Krankenhaus wenden. Milic-Alijagic sagte: „Wir erklären das österreichische System. Migranten, die diese Information haben, suchen vermehrt niedergelassene Allgemeinmediziner und Fachärzte auf.“
Das MIMI-Projekt ging von Deutschland aus und wurde nun auch in Wien und in Oberösterreich etabliert. „Es soll dazu beitragen, den Krankenhausalltag für alle Beteiligten zu vereinfachen“, sagte Milic-Alijagic. Sie begrüßt es sehr, dass der besonderen Situation von Migranten im Spitalsumfeld zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt wird.
Unterschiedliche Sozialisation, unterschiedlicher Zugang zu Krankheit
Berger verwies auf Hindernisse in der Betreuung, die sich aus der unterschiedlichen Sozialisation, den unterschiedlichen Zugängen zu Krankheiten und unterschiedlichen Copingstrategien ergeben. An der transkulturellen MS-Ambulanz in Innsbruck werden vor allem Migranten türkischer Ethnie mit sunnitisch konservativer Sozialisierung betreut. „Wir müssen berücksichtigen, dass diese Menschen auf Erklärungsmodelle zurückgreifen, bei der eine Erkrankung als „gottgegeben“ gesehen wird, die weder erklärt noch verstanden werden muss. Anzuerkennen ist, dass Religion eine günstige Copingstrategie sein kann. Türkisch-alevitische Patienten, die weniger religiös sozialisiert sind, greifen hingegen oft zu Copingstrategien mit kreativem Charakter wie Literatur oder Musik.“
Der evangelische Theologe und Gesundheitsethiker PD Univ.-Lektor Dr. Andreas Klein, Hartinger-Klein Consulting, Universität Wien, im Kontext der Krankheitsbewältigung erläuterte, dass Religion ein Sinnangebot sei: „Sie kann sich als Vorteil erweisen, aber aufgrund des inhärenten Aggressionspotentials auch negative Effekte haben.“
Wie Klein betonte, werde man sich in Zukunft vermehrt auf rationale interkulturelle Diskurse über Krankheitskonzepte einlassen und auch die eigenen Vorstellungen hinterfragen müssen: „Diese divergieren nicht nur zwischen Kulturen, sondern auch zwischen Individuen. Selbst der ICD-10 entwickelt sich ständig weiter. So wird Homosexualität längst nicht mehr als psychische Störung klassifiziert, ist aber für manche Österreicher nach wie vor eine Krankheit und aus katholischer Sicht eine Sünde.“
Es müsse begreiflich und verständlich gemacht werden, wie und warum sich die in Österreich sehr hohen Standards entwickelt haben, die auf sehr ethischen Fundamentalprinzipien beruhen, so Klein: „Wir legen im Gesundheitswesen Wert auf Selbstbestimmung und Autonomie des Einzelnen, auf das Prinzip „nicht schaden“, Fürsorge und Gerechtigkeit bei der Ressourcenverteilung. Es gilt, Menschen in ihrer Selbstbestimmung wahrzunehmen und zu stärken.“
Milic-Alijagic erzählte von einer speziellen Herausforderung auf dem pflegerischen Sektor: „Manche Menschen aus anderen Kulturen sind im Spital erstmals mit einer Ganzkörperpflege konfrontiert. Das führt immer wieder zu Missverständnissen mit der Pflege.“ Auch das Thema Sexualität erfordere besonders viel Fingerspitzengefühl, wie OÄ Dr. Sabine Urbanits, KH Barmherzige Brüder Eisenstadt, ausführte: „MS geht häufig mit sexuellen Funktionsstörungen einher. Wichtig ist, das Problem zu erkennen und darauf zu reagieren. Diese Problematik sollte aktiv angesprochen werden und wir sollten unseren Patienten Raum geben, ihre Probleme zu schildern, damit wir darauf eingehen können. Sonst werden sie eskalieren.“ Sie plädierte dafür, das Thema Sexualität unmittelbar aufzugreifen und nicht auf einen Dolmetscher zu warten, wenn ein Patient darüber sprechen möchte: „So fühlen sich Patienten ernst genommen.“
„Es sei sehr wichtig, den Gatten in ein solches Gespräch einzubeziehen“, fügte Milic-Alijagic hinzu: „Es gibt Kulturen, in denen eine Frau Sexualprobleme nicht mit einem männlichen Arzt besprechen darf. Hilfreich zu wissen ist auch, dass neutral formulierte Therapieangebote leichter angenommen werden als persönlich formulierte.“
Mehr Vertrauen in Ärzte aus dem eigenen Kulturkreis
Ein gewisses Konfliktpotential bei der medizinischen Betreuung ergibt sich daraus, dass türkeistämmige Patienten die Erwartung haben, „kultureigene“ Ärzte würden die Beschwerden besser verstehen, behandeln oder gar heilen können als österreichische Ärzte, so Berger: „Daher konsultieren sie zumindest einmal einen Arzt in der Türkei. Solche Aufwertungs- und Abwertungstendenzen sind für eine Arzt-Patienten-Beziehung in- und außerhalb einer transkulturellen Ambulanz schwierig. Oft werden negative Aspekte der eigenen Migrationsgeschichte auf die aufzunehmende Gesellschaft projiziert. Das kann das Vertrauen in den Arzt beeinträchtigen. Ein transkultureller Behandler kann dazu beitragen, hier Balance zu schaffen.“
Ein spezifisches medizinisches Problem ergibt sich aus dem Umstand, dass Menschen mit Migrationshintergrund oft eng mit ihrem Herkunftsland verbunden bleiben. Dies ist in Hinblick auf potentielle Infektionen von Bedeutung, wie OA Dr. Oskar Janata, Donauspital – SMZ Ost, Wien, anhand eines Beispiels illustrierte: „Menschen aus Malaria-Endemiegebieten verlieren nach zwei Jahren in Österreich ihren natürlichen Schutz. Bei einem Urlaub in ihrer Heimat können sie sich mit Malaria infizieren und mit der Infektion nach Österreich zurückkehren.“ Hingegen seien in Österreich im vergangenen Jahr auch im Zuge der Unterbringung vieler Flüchtlinge in Massenquartieren aufgrund der guten sanitären Verhältnisse keine relevanten Probleme mit Infektionen wie beispielsweise mit Shigellen, Salmonellen oder Typhuserregern aufgetreten. Das Verhältnis MS zu Infektionskrankheiten sei, so Janata, komplex und facettenreich. Diskutiert werde, ob Infektionskrankheiten an der Pathogenese der Erkrankung beteiligt sind und ob die globale unterschiedliche MS-Prävalenz in High-risk- und Low-risk-Länder Ausdruck einer differenten Infektprävalenz ist. Auffallend sei ein Anstieg der MS-Diagnosen bei Personen, die aus Low-risk- in High-risk-Länder migrieren. Aber auch dies könne, so Janata, als Folge einer besseren medizinischen Versorgung interpretiert werden. Weniger umstritten sei, so Janata, dass akute Infektionen eine MS-Exazerbation triggern können: „Inwieweit sich dies durch Impfungen beispielsweise gegen Influenza oder durch eine frühzeitige Antibiotikatherapie vermeiden lässt, ist mangels Daten unklar.“ Er verwies darauf, dass Infekte auch als Komplikation der MS-Therapie auftreten können: „Unter dem transkulturellen Aspekt ist hier die Tuberkulose zu nennen, deren Prävalenz weltweit ebenfalls sehr unterschiedlich ist.“
Wir können uns die Betreuung von Migranten leisten
Ökonomische Aspekte der medizinischen Betreuung von Migranten werden in den Medien immer wieder hochgespielt. Univ.-Prof. Dr. Wilhelm Frank, Gesundheitssystemberatung, hielt dazu fest: „Oft kolportierte Horrormeldungen über die Unfinanzierbarkeit unseres Gesundheitssystems sind völlig unangebracht. Österreich hat ein sehr „reifes“ Gesundheitssystem, das sich mit den Fragen der bestmöglichen Betreuung von Migranten auf sehr hohem Niveau beschäftigen kann. Diese Menschen werden gerne behandelt, weil wir es ihnen schulden und weil wir es uns leisten können. Es ist für unser Gesundheitssystem quantitativ eine Kleinigkeit.“
Berger fügte hinzu: „Im populistischen Mainstream werden Patienten mit Migrationshintergrund als Kostenverursacher denunziert. Tatsächlich sind es Patienten wie alle anderen Patienten. Auf dem Rücken dieser Menschen wird eine semantische Hypertrophie betrieben. Hier gibt es aber keine Überdimension, wie häufig der Eindruck erweckt wird. Gerade MS ist eine Erkrankung, die eine überschaubare Zahl junger Patienten betrifft. Wir haben bei der Betreuung unserer Patienten mit MS auch unter dem transkulturellen Aspekt einen modellhaften Weg mit holistischer Sicht beschritten. Das erweitert unseren Horizont und bringt unseren Patienten einen Nutzen.“
REFERENZEN:
(1) Bi G. SOPEMI Report on Labour Migration Austria 2008-09
(2) Statistik Austria, Statistik des Bevölkerungsstandes
(3) http://www.integrationsfonds.at/.../migrationintegration-2016.pdf