ÖGN-Symposium „Therapiestrategien bei MS“
In der Betreuung von Patienten mit Multipler Sklerose ist sowohl die Indikationsstellung als auch die Wahl des bestgeeigneten Therapeutikums sehr individuell und erfordert eine ganzheitliche Betrachtung. Um die Therapiepalette zu erweitern, braucht es ein noch besseres Verständnis der immunologischen Prozesse dieser speziellen Autoimmunkrankheit
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Therapiestrategien bei MS
Redaktion: Dr. Claudia Uhlir
Therapieentscheidungen bei Multiple Sklerose (MS) beruhen ganz wesentlich auf drei Kriterien: den Wünschen des Patienten, dem klinischen Verlauf und dem Wirkungs-Nebenwirkungs-Profil der infrage kommenden MS-Therapeutika, hielt Prim. Univ.-Prof. Dr. Peter Kapeller, Abteilung für Neurologie, LKH Villach, im Rahmen eines Symposiums* bei der ÖGN-Jahrestagung fest. Er betonte: „Zu beachten ist, dass Erwartungen von Patienten an eine Therapie durchaus von jenen der Ärzte abweichen können.“
Unterschiedliche Sichtweise von Patienten und Ärzten: So ergab eine Analyse, dass MS-Betroffene und Ärzte verschiedene Aspekte der Lebensqualität unterschiedlich gewichten. Während für Patienten mit MS die geistige und emotionale Verfassung und auch die Vitalität den größten Einfluss auf die Lebensqualität haben, bewerten Ärzte die körperliche Funktion bzw. physische Einschränkungen und die Sozialfunktion als vermeintlich relevantere Faktoren.1 „Wir messen Schubratenreduktion und Krankheitsprogression oder konzentrieren uns auf den zusammengesetzten Parameter NEDA – no evidence of disease activity. Über die Aspekte, die den Patienten offensichtlich wichtiger sind, wird wenig kommuniziert. Wir sollten uns also nicht nur auf die körperliche Funktion fokussieren, sondern die Situation unserer Patienten gesamtheitlich erfassen“, sagte Kapeller.
Herausforderungen bei der Therapiewahl: Im therapeutischen Management der MS geht der Trend in Richtung einer Behandlung bereits bei CIS (clinically isolated syndrome, CIS). Kapeller verwies darauf, dass manche MS-Experten mittlerweile einen Therapiebeginn auch schon bei Nachweis eines RIS (radiologically isolated syndrome) überlegen. „Es wird eine intensive Diskussion über Nutzen und Risiko geführt.“ Generell sei es nicht einfach, das Nutzen-Risiko-Profil verschiedener MS-Therapeutika miteinander zu vergleichen. „Man hat den Eindruck, dass moderne MS-Medikamente wirksamer sein könnten als die alten Substanzen. Die Ergebnisse der älteren und rezenteren Studien sind allerdings schwer zu vergleichen, da sich die Einschlusskriterien aufgrund mehrfacher Modifikationen der Diagnosekriterien verändert haben. Und auch die Schubratenreduktion ist oft unterschiedlich definiert“, sagte Kapeller. Eine gewisse Einordnung ermöglicht der Vergleich der Number needed to treat (NNT), die aus dem Kehrwert der absoluten Risikoreduktion ermittelt wird. „Dieser Parameter wird zum Vergleich von Medikamenten in der Schlaganfalltherapie herangezogen“, hielt Kapeller fest. Die Tabelle gibt einen Überblick über die NNT der verfügbaren MS-Therapeutika zur Vermeidung eines Schubes.2 „Interferon beta-1a s. c. (Rebif®) weist eine NNT von nur 2,4 aus. Beim Vergleich der NNT verschiedener MS-Therapeutika ist zu beachten, dass neuere Medikamente bei aggressiveren Krankheitsverläufen eingesetzt werden, was die höheren NNT erklärt“, erläuterte Kapeller.
Autoren eines Wirksamkeitsvergleichs von Immuntherapien bei MS auf Basis der Datenlage kamen zu dem Schluss, dass Alemtuzumab, Natalizumab und Fingolimod den größten präventiven Effekt gegen Schübe aufwiesen, während die Assoziation mit der Behinderungsprogression unklar war. Für Fingolimod wurde die höchste Abbruchrate aufgrund von unerwünschten Ereignissen dokumentiert.3
Um die Entscheidung für eine Therapieumstellung zu erleichtern, wurden mittlerweile verschiedene Modelle entwickelt, wie das Mehrfaktorenmodell von Stangl et al. auf Basis von Klinik, MRT und Patientenfaktoren4.
Entscheidungskriterium Sicherheit: Wie bei allen Langzeittherapien spielt der Sicherheitsaspekt auch bei der MS-Therapie eine entscheidende Rolle. Der Fokus liege, so Kapeller, auf Organschäden (v. a. kardial, hepatisch, gastroenterologisch, onkologisch, dermatologisch), auf opportunistischen Infektionen (v. a. progressive multifokale Leukenzephalopathie, Herpes Zoster) und auf Teratogenität (Notwendigkeit einer Kontrazeption). „Auch die oralen Therapien sind in Hinblick auf Verträglichkeit und Sicherheit nicht ganz unproblematisch. Und bezüglich Compliance haben sich unsere in die oralen Therapien gesetzten Hoffnungen ebenfalls nicht ganz erfüllt“, berichtete Kapeller. Die Entscheidung für einen Therapiebeginn oder einen Therapiewechsel sei sehr individuell zu treffen, so Kapeller. „Wir müssen eine Therapie wählen, die für den Patienten machbar ist und seinen Erwartungen entgegenkommt.“
Heute stehen MS-Therapeutika zur Verfügung, die an unterschiedlichen Stellen des Immunsystems angreifen. Prof. Dr. Reinhold Förster, Institut für Immunologie, Medizinische Hochschule Hannover, beleuchtete in seinem Vortrag die Migration und Interaktion von Immunzellen als Basis des Immunsystems sowie die unterschiedlichen Angriffspunkte von MS-Therapeutika. „Da das Immunsystem dezentral organisiert ist, ist die Mobilität der Immunzellen dringend erforderlich. Von Zellen produzierte Chemokine spielen hier eine wesentliche Rolle.“ Die meisten Immunzellen verbleiben bis zur Reifung im Knochenmark und wandern dann in die Lymphknoten. Lediglich T-Zellen reifen, um eine Autoimmunität zu verhindern, im Thymus.
Aktivierung von Immunzellen in den Lymphknoten: Immunzellen können aus dem Blut über spezialisierte Venolen in die Lymphknoten einwandern. In Lymphknoten finden sich eigene Bereiche für B- und für T-Zellen, in denen sich diese Zellen bewegen können. Die für die Immunabwehr ebenfalls zentralen dendritischen Zellen werden aus Haut und Schleimhaut mobilisiert, migrieren aktiv in die Lymphgefäße ein und werden anschließend passiv mit der Lymphe in den subkapsulären Sinus der Lymphknoten eingeschleust. Auch diese Wanderung wird über das Chemokinsystem vermittelt. Durch Aktivierung nehmen dendritische Zellen Fremdmaterial auf, zerkleinern es und präsentieren es den T-Lymphozyten. Dadurch werden T-Lymphozyten aktiviert, darunter zytotoxische CD8-T-Lymphozyten und T-Helferzellen, die Zytokine sezernieren, welche die Entzündung verstärken und zum Teil in der Lage sind, Zellen abzutöten. Auch follikuläre T-Helferzellen werden im Lymphknoten aktiviert. Sie helfen B-Zellen in Antikörper produzierende Plasmazellen zu differenzieren. Werden nach Infektionen T-Zellen von dendritischen Zellen aktiviert, kommt es zu einer Proliferation der T-Zellen, und zu einem Shutdown des Lymphknotens, wodurch Zellen den Lymphknoten für einige Tage nicht mehr verlassen können. Dies stellt eine zuverlässige Aktivierung der T-Zellen sicher. Klinisch wird dies durch eine Schwellung des Lymphknotens sichtbar.
Autoimmunität durch Fehlfunktion: Autoimmunität entsteht durch eine Fehlfunktion des Immunsystems, das körpereigenes Material nicht mehr als solches erkennt. „In diesem Fall laufen dieselben Prozesse ab wie bei einer Immunantwort gegen Pathogene“, sagte Förster. Ursachen für Autoimmunität sind beispielsweise eine Dysfunktion des Thymus, der autoreaktive T-Zellen freisetzt, oder molekulares Mimikry, bei dem beispielsweise Viren Epitope aufweisen, die sich auch im Körper finden. Dadurch werden Immunzellen fälschlicherweise in die Lage versetzt, beispielsweise Myelin in den Markscheiden zu erkennen.
Angriffspunkte von MS-Therapeutika: MS-Therapeutika setzen an verschiedenen Stellen des Immunsystems an. Ocrelizumab depletiert selektiv CD20-positive B-Zellen, Daclizumab hemmt die T-Zell-Expansion, Fingolimod hemmt die Auswanderung von T-Zellen aus den Lymphknoten, und Natalizumab hemmt das Einwandern von Leukozyten in das ZNS durch Hemmung des Adhäsionsmoleküls Integrin ?4?1. Cladribin hemmt die DNA-Synthese und die Zellproliferation, wodurch weniger Immunzellen aktiviert werden. Diese Therapien zielen primär darauf ab, die Aktivierung von Immunzellen zu unterbinden oder ihr Wanderverhalten zu beeinflussen.. Die Immigration der in den Lymphknoten gebildeten autoreaktiven Immunzellen in das ZNS erfolgt entweder über die Blut-Hirn-Schranke, den Subarachnoidalraum oder über den Plexus choroideus. Nach Einwandern autoreaktiver Immunzellen in das Gehirn kommt es zur MS-typischen Zerstörung der Myelinscheide. Darüber hinaus bilden sich perivaskuläre Infiltrationen, aus denen im Lauf der Zeit kleine autarke Lymphknoten-ähnliche Strukturen entstehen können. In diesen findet möglicherwiese analog zu den Abläufen in den peripheren Lymphknoten das Priming der Immunantwort gegen körpereigene Substanz statt. Hier können die verfügbaren MS-Therapeutika, die in der Peripherie sehr effektiv sind, nicht wirken. „Um neue Zielstrukturen für MS-Therapien zu identifizieren, ist ein besseres Verständnis der immunologischen Prozesse der sehr prägnanten Autoimmunerkrankung erforderlich“, schloss Förster.
¢* „Insights Immunologie: Basis zukünftiger MS-Therapieoptionen“, Symposium von Merck im Rahmen der ÖGN-Jahrestagung 2017, 24. 3. 2017
1 Rothwell PM et al., BMJ 1997; 314:1580–3
2 Venci JV et al., Annals of Pharmacotherapy 2013; 47(12):1697–702; DOI: 10.1177/1060028013509232
3 Tramacere I et al., JAMA 2016; 315:409–10
4 Stangl M et al., Akt Neurol 2013; 40:486–93